Es geht um die Gegenwart und Zukunft

Gedenkveranstaltung anlässlich des 85. Jahrestages des Ausschlusses jüdischer Ärzte aus der Kassenärztlichen Versorgung
Grußwort von Petra Pau, MdB
Berlin, 8. November 2018

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Zuweilen nutze ich meine Privilegien als Abgeordnete, so auch diesmal.
Als ich gebeten wurde, ihnen ein Grußwort zu sprechen, dachte ich: Etwas mehr, als bislang, über den Ausschluss jüdischer Ärzte durch das NS-Regime und die damalige kassenärztliche Versorgung zu wissen, kann nur gut sein.

Also bat ich den wissenschaftlichen Dienst des Bundestages um Zuarbeiten.
Und so bekam ich einen dicken Leitz-Ordner, prall gefüllt mit historischen Daten, mit Einschätzungen und Dokumenten.

Keine Angst, ich werde das hier nicht alles ausführen.
Aber drei meiner Gedanken teile ich Ihnen gerne mit.

1. Antisemitismus ist Jahrhunderte alt. In der Nazi-Zeit wurde er zum Exzess getrieben, allgegenwärtig und von Staats wegen.

Nicht auf einen Schlag, sondern in einem Steigerungslauf. Sie kennen die Daten:
1933: über jüdische Geschäfte wurde ein Boykott verhängt;
1935: Jüdinnen und Juden wird das Wahlrecht entzogen;
1938: Judenpogrome im ganzen Reich;
1942: Die Endlösung der s. g. Judenfrage wird beschlossen.

Jede antisemitische Steigerung war für die Nazis zugleich ein Test, ob und wie weit die Bevölkerung das alles widerspruchslos mit trägt.

Auch jüdische Ärzte waren davon betroffen. Für sie kam hinzu:
Ab 1933 dürfen sie nicht mehr in Krankenhäusern arbeiten.
Später wurde ihnen untersagt, sich Ärzte zu nennen.
Behandeln durften sie; wenn überhaupt, nur noch Jüdinnen und Juden.
Ab 1938 durften sie nicht einmal mehr das.

Als ich nun über all das erneut nachdachte, ging mir folgender Gedanke durch den Kopf. Ärzte sind für Patientinnen und Patienten Vertrauenspersonen.
Sie vertrauen den Ärzten ihrer Wahl ihren Körper, ihr Inneres, ihre Seele an.
Wie konnte es sein, dass das Gros der Bevölkerung es nahezu widerspruchslos hinnahm, dass Personen ihres Vertrauens plötzlich zu Unmenschen erklärt wurden?

Denn das betraf ja nicht nur die Ärzte, sondern indirekt auch sie, Millionen Patienten. Offenbar war Antisemitismus nicht nur weit verbreitet, sondern auch tiefer verwurzelt, als ich mir vorstellen kann.

Umso mehr gilt es aktuell Stoppzeichen zu setzen, wenn Antisemiten erneut ihre Stimme oder gar die Faust gegen Jüdinnen und Juden erheben.

2. Eine weitere Frage ist, wie nach 1945 mit dem Thema und mit den Opfern des Faschismus umgegangen wurde. Da gab es Phasen verschiedener Ignoranz oder Intensität. Auch das will ich nur andeuten und auf einen Punkt kommen, bei dem die Herangehensweise in Ost und West, in der DDR und in der BRD-alt geradezu spiegel-verkehrt war.

In der DDR wurden Opfer des Faschismus vor allem dann geschätzt, wenn sie Kommunistinnen bzw. Kommunisten waren. Andere Opfer des Faschismus galten lange Zeit - salopp gesagt - als nachrangig.
In der Bundesrepublik-alt war es andersherum. Opfer des Faschismus wurden mehr oder weniger respektiert, es sei denn, sie waren kommunistisch geprägt. Dann wurden sie häufig mit den Tätern gleichgestellt. Beides war unwürdig.

Sage bitte niemand: Ja, aber das war damals. Nein, diese bundesdeutsche Denkweise gibt es weiter, in der Politik, in den Medien, ja selbst, wie bei Prof. Jesse mit seiner Extremismus-Theorie, an Universitäten: Rechts gleich Links gleich extremistisch. So werden Faschisten und Antifaschisten in einen Topf geworfen. Ich halte diese Gleichsetzung für falsch und gefährlich.

Hinzu kommt: „Antifa“, wie Antifaschismus gelegentlich abgekürzt wird, bedeutet nicht a priori links. Es geht um ein grundsätzliches Engagement für Demokratie, Toleranz und eine weltoffene Gesellschaft, so, wie es am 13. Oktober dieses Jahres in Berlin unter dem Motto „unteilbar“ 240.000 Bürgerinnen und Bürger unterschiedlicher Couleur demonstriert haben.

3. Empfange ich im Bundestag Besuch und reicht die Zeit, dann gehen wir durch die Parlamentsgebäude mit Halt bei einigen Kunstwerken. Davon gibt es viele, so viele, dass sie einen Bildband füllen.

Zwei gehören zum Standardprogramm. Beide sind im Reichstagsgebäude. Und beide waren höchst umstritten.

Da ist der Andachtsraum von Günther Uecker. Er bietet Raum und Beigaben für alle relevanten Religionen, für Christen, für Juden, für Muslime, auch für Hindus. Unions-Politiker forderten ein dominierendes Kreuz, schließlich sei man hier im christlichen Abendland. Uecker lehnte das standhaft ab.

Das zweite Kunstwerk ist im Innenhof des Gebäudes. Es ist von Hans Haake. Er schuf einen Schriftzug „Der Bevölkerung“, in bewusstem Kontrast zu der Giebelinschrift „Dem deutschen Volke“. Die Buchstaben werden umgrünt. Wer wollte, konnte aus seinem Wahlkreis ein Säckchen Erde mitbringen. Und was diese barg und was aus ihr erwächst, soll gedeihen, unbeschnitten, unbegradigt.

Uecker plädiert für einen gleichberechtigten Dialog, interreligiös. Haake mahnt uns Abgeordnete, für alle Bürgerinnen und Bürger da zu sein, multikulturell, und nicht nur für Nationalgermanen.

Lange hatte ich beide Botschaften vor allem als Erinnerung an die mörderische Zeit des Faschismus interpretiert. Aber spätestens seit diese von einem bekannten AfD-Politiker als „Vogelschiss“ verharmlost wurde, weiß ich: Ueckers und Haakes Mahnungen sind brandaktuell.

Seit kurzem werden in der Bundespolitik erneut Stimmen laut, die eine Umkehr in der Erinnerungspolitik fordern. Das Holocaust-Mahnmal wird mit dem Wort „Schande“ zusammengebracht. Und es wird Stolz auf die Leistung der Wehrmacht in zwei Weltkriegen angemahnt.

Als Vizepräsidentin kann ich ihnen sagen:
Der Bundestag teilt diese Ansinnen nicht. Im Gegenteil: Wir brauchen die Erinnerung an die Nazi-Gräuel und daran, wie es dazu kommen konnte.

Mehr noch: Wir brauchen neue Formen der Erinnerung. Von den damaligen Opfern des Faschismus leben kaum noch Zeitzeugen, bei Ärztinnen und Ärzten wahrscheinlich niemand mehr.

Zugleich ist für die nachwachsenden Generationen die Zeit des Faschismus gefühlt so fern, wie der 30-jährige Krieg. Und Bürgerinnen und Bürger, die aus anderen Ländern zu uns kommen, meinen damit ohnehin nichts zu tun zu haben.

Aber es geht nicht ums Erinnern der Erinnerung wegen, sondern um unsere Verantwortung für die Gegenwart und Zukunft.
In diesem Sinne wünsche ich dieser Veranstaltung und ihrer Arbeit viel Erfolg.
 
 

 

 

8.11.2018
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